Der zweite Tag der Anwendertagung wurde von Jakob Freund eröffnet. Er referierte über die Umsetzung von fachlichen Modellen in die Ausführung. Aus seinen Projekterfahrungen zog er den Schluß, dass Zero Coding nicht möglich ist. BPMN-Modelle dienen vor allem der Kommunikation zwischen den verschiedenen Fraktionen im Unternehmen. Im Camunda-Framework werden auf der obersten Ebene einfach verständliche Übersichtsmodelle erstellt. Auf der zweiten Ebene finden sich detaillierte fachliche Modelle, die den tatsächlichen Prozess im Detail abbilden. Hierbei wird ein semantischer Bruch zur Ebene 1 bewusst in Kauf genommen. Die Ebene 2-Modelle lassen sich aber gut in ausführbare Modelle der Ebene 3 überführen. Um die automatisierten Prozesse mit den fachlichen Prozessschritten zu verknüpfen werden Kollaborationsdiagramme verwendet. Durch Auf- und Zuklappen der Pools für die beteiligten Rollen lassen sich individuelle Sichten für jeden Prozessbeteiligten erstellen. Der Toolhersteller Signavio hat dieses Sichtenkonzept bereits implementiert. Im zweiten Teil seines Vortrags gab er einen Einblick in das Open Source-Projekt Activiti. Die Komponente Activiti Cycle verwaltet die verschiedenen Aspekte (wie z. B. Anforderungen, Masken, Regeln, …) eines Projektes und verknüpft sie mit dem Prozess, wobei die einzelnen Artefakte in verschiedenen Quellsystemen verbleiben.
Round-Trip-Engineering – geht das?
Martin Bartonitz von Saperion griff das Thema von Jakob Freund auf. Er bloggt ebenfalls fleißig im Saperion Blog. Er hört häufiger die Frage, ob es möglich ist, existierende Prozessmodelle in ein BPMS zu übernehmen und so zu automatisieren. Beim BPM Round-Trip geht es also darum, wie man von aus organisatorischer Sicht erstellten Modellen zur Ausführung inklusive Schnittstellen, Fehlerbehandlung etc. kommt – und wieder zurück. Es lässt sich daher nicht verhindern, dass die Modelle grundsätzlich überarbeitet werden müssen. Bislang unterschieden sich auch die verwendeten Notationen beider Seiten. Mit BPMN könnte sich dies ändern. Mit dem zur BPMN 2.0 definierten Austauschformat lassen sich die Modelle aus fachlichen Modellierungstools in Process Engines übernehmen.
Bartonitz berichtete über die Realisierung des Roundtrips gemeinsam mit einem Toolhersteller (wiederum Signavio – dieser Hersteller hat auf der Tagung ganz offensichtlich ein Heimspiel …) und die Erfahrung eines Pilotanwenders. Die ursprünglich ohne Bezug zu einem konkreten BPMS modellierten fachlichen Modelle wurden im ersten Schritt überarbeitet, wobei bereits die Möglichkeiten der Automatisierung berücksichtigt wurden. So wurden beispielsweise mehrere Aktivitäten zusammengefasst, die von einer Person zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden.
Saperion enthält schon seit längerer Zeit Möglichkeiten für die elektronische Aktenverwaltung. Diese Möglichkeiten entsprechen bereits den Ideen der aktuellen Diskussion zum adaptiven Case Management. Bei der Integration von Signavio und Saperion war zum einen zu berücksichtigen, dass Saperion nicht alle Elemente der BPMN 2.0 benötigt. Andererseits gibt es im BPMS von Saperion Funktionalitäten, die BPMN 2.0 nicht kennt, und daher als Attribute zur Modellierung hinzugefügt werden mussten. Beispielsweise kann man definieren, dass der Bearbeiter eines Schrittes entscheidet, wer der nächste Bearbeiter sein soll.
Wie kommen Rollen und Dokumente in die Prozessmodelle?
Juliane Siegeris von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin beschrieb die Integration von Prozessen, Organisation, Rollen und Dokumenten bei Gematik, einem Dienstleister für die Gesundheitskarte. Dies erfolgte in einem Projekt zur Umstellung auf eine Matrixorganisation mit Prozessorientierung. Mit Hilfe der Prozessmodellierung sollten die Verantwortlichkeiten definiert und transparent gemacht werden. Hierbei modellierten die Fachbereiche selbst ihre eigenen Prozesse mit dem Tool Enterprise Architect. Modellierungsrichtlinien stellten die einheitliche Modellierung sicher. Die zusätzlichen Aspekte wie Organisation und Dokumente wurden mit Hilfe von UML modelliert und in einem gemeinsamen Repository abgelegt und in den BPMN-Modellen verwendet. Ein Pool muss immer einer Klasse im Organisations- und Rollenmodell entsprechen. Die ebenfalls als Klassen modellierten Dokumente werden per Drag and Drop in die BPMN-Modelle gezogen und stehen dort als Artefakte zur Verfügung. Dasselbe Vorgehen wurde für Schnittstellen zwischen Bereichen gewählt, wobei diese in Form von Nachrichten-Ereignissen im Prozessmodell dargestellt werden.
Die Modellierungsregeln werden mit Hilfe von Reports automatisch überprüft. Die einheitliche Modellierung wird weiterhin unterstützt durch Schulungen, einen Modellierungsleitfaden, regelmäßige Treffen, ein Wiki und einen formalen Review- und Freigabeprozess. Aus den Modellen wird automatisch ein Prozessportal generiert, wobei die verschiedenen Querbeziehungen zwischen den Modellen ausgewertet werden. So lässt sich z. B. von einer Rollle zu den Prozessen navigieren, an der diese Rolle beteiligt ist.
Prozesse in der öffentlichen Verwaltung
Konrad Walser von der Fachhochschule Bern referierte über die Nutzung von BPMN in der Schweizer Verwaltung. Im föderalen System der Schweiz ist es nicht ganz einfach, ein vernetztes E-Government mit einer einheitlichen Architektur zu schaffen. Die vom Verein eCH als Empfehlung definierte Struktur der BPM-Dokumentation kombiniert Leistungsinventar und Leistungsarchitekturen mit Prozessbeschreibungen mittels BPMN. Zur Leistungserbringung sind Kollaborationen über Verwaltungsgrenzen hinweg erforderlich. Idealerweise hat der Kunde nur noch einen einzigen Kontakt in der Verwaltung für einen kompletten Ablauf. Der einheitliche Ansprechpartner koordiniert die verschiedenen beteiligten Ämter. Für die IT-Unterstützung wird eine SOA-basierte Infrastruktur aufgebaut. Prozessorientierung in der öffentlichen Verwaltung erfordert einen Kulturwandel. Dieser Wandel ist nicht ganz einfach, doch Walser sieht bereits eine Reihe positiver Entwicklung, so gibt es einige Leuchtturmprojekte, wo das Konzept bereits angewandt wird.
Projektperformance mit BPMN steigern
Der Organisationsberater Thorsten Rammelmann stellte ein Projekt zur Gestaltung eines Prozesses aus einem Hochleistungsdruckzentrum vor. Drucken, Kuvertieren, Versenden von Kreditkartenabrechnungen müssen für Millionen Sendungen mit einer Zuverlässigkeit von 100% durchgeführt werden. Die Visualisierung von Prozessen spielt u. a. eine wichtige Rolle, wenn es darum geht Mitarbeiter zu motivieren und die Nachhaltigkeit zu sichern. BPMN ist vor allem an den Stellen nützlich, wo es häufig Reibereien gibt. Rammelmann entwickelt zur Kommunikation zwischen zunächst recht grobe fachliche Modelle. Das Modell wird in einem Meeting durch die verschiedenen Beteiligten verfeinert und detailliert. Damit liegen recht sauber strukturierte und abgestimmte Definitionen und Anforderungen vor.
Die Mitarbeiter nutzen eine Web-basierte Modellierungsplattform zur Modellierung und Kommentierung der Modelle. Auf Grundlage der Modelle werden verschiedene benötigte Qualitätsdokumentationen, Testbeschreibungen, Schnittstellenbeschreibungen, Vorgaben für die Planung usw. erstellt. U. a. lassen sich durch diese Vorgehensweise die Vorbereitungszeit für neue Produktionen und die Zeit für den Projektsetup um ca. 30% reduzieren, der Ressourceneinsatz sinkt ungefähr um 20%. Vor allem aber wird das verbreitete Tellerrand-Denken reduziert. Zu dem auf der Tagung mehrfach angesprochenen Unterschied zwischen BPMN und EPK hat Rammelmann die Erfahrung gemacht, dass BPMN wesentlich besser verstanden wird.
BPMN bei Vattenfall
Vattenfall hat seit 2007 eine BPMN-basierte Prozessmodellierungsnotation eingeführt, die intern als „BPMN light“ bezeichnet wird. Zu Beginn fand Nico Haarländer viele unterschiedene Modelle in verschiedenen Notationen vor. Seitdem ist es gelungen, BPMN light als verbindlichen, unternehmensweiten Standard zu etablieren. Zunächst verwendeten die internen Berater die Notation in allen ihren Projekten. Im zweiten Schritt wurden weitere funktionale Bereiche eingebunden. Auf Grundlage der gewonnenen Erfahrungen wurden Modellierungsrichtlinien und Rollen entwickelt und schließlich ein Tool ausgewählt. Die Modelle werden einerseits für IT-Projekte, Architekturmanagement, automatisierte Prozesse verwendet, andererseits auch für organisatorische Aspekte.
Vatennfall verwendet auf oberer Ebene Prozesslandkarten. Darunter liegen die Prozessmodelle in BPMN light. Alternativ können auch LIPOK-Tabellen (Lieferant – Input – Prozess – Output – Kunde) oder verbale Beschreibungen verwendet werden. BPMN light verzichtet auf viele Konstrukte der BPMN. Hinzu gefügt wurden beispielsweise Artefakte für Informationssysteme. Input- und Outputdatenobjekte werden übersichtlich in Spalten auf der linken und rechten Seite des Modells dargestellt, wodurch die Schnittstelle des Prozesses spezifiziert wird.