Dieses englischsprachige Handbuch des Business Process Management beeindruckt zuallererst durch seinen Umfang: Die zwei Bände umfassen gut 1200 Seiten mit mehr als fünfzig Aufsätzen von über hundert Autoren, darunter bekannte BPM-Experten wie Michael Hammer, Thomas Davenport, Roger Burlton, Paul Harmon, Frank Leymann und Sandy Kemsley. Anspruch der Herausgeber ist es, Geschäftsprozessmanagement als ganzheitlichen Ansatz umfassend abzudecken, dabei aber die Details nicht aus den Augen zu verlieren. Das Thema wurde in die sechs folgenden Gebiete unterteilt:
- Strategische Ausrichtung
- Governance
- Methoden
- Informationstechnik
- Menschen
- Kultur
Die Herausgeber erläutern das für die Einteilung verwendete Framework und die jeweils abgedeckten Einzelthemen in einem eigenen Kapitel. Wer die Entwicklung des BPM verfolgt hat, mag das eine oder andere Stichwort vermissen. So wurde in der Vergangenheit viel über die Prozessorganisation und die Ausrichtung der Aufbauorganisation an den Prozessen diskutiert. Dennoch taucht dies nicht als eigener Punkt auf. Andererseits wurde das Framework u. a. durch die Auswertung verschiedener etablierter Reifegradmodelle gewonnen und durch eine Delphi-Studie validiert, so dass es durchaus auf einem breiten Konsens beruht.
Ein derart umfassendes Werk herauszubringen ist eine gewaltige Aufgabe, zumal ein recht großer Aufwand betrieben wurde. Alle Beiträge haben ein zweistufiges Review durchlaufen und wurden ggf. überarbeitet. Auch das Einfügen zahlreicher Querverweise zu den anderen Beiträgen und das Erstellen eines Gesamtindex kosteten Zeit. Dies hatte leider zur Folge, dass zwischen dem Entstehen der meisten Beiträge und dem Erscheinen des Buchs etwa zwei Jahre vergangen sind. Bei vielen grundlegenden Beiträgen stört dies nicht, sie sind unverändert aktuell.
Nachteilig ist dies hingegen bei einigen Kapiteln zu spezielleren Themen. Beispielsweise gibt es mehrere Beiträge, die sich mit der BPMN und der Modellierung von Choreographien befassen. Nun liegt bereits seit Mitte 2009 der seitdem nur noch wenig veränderte Entwurf der BPMN 2.0 vor. Dieser wird in keinem der Beiträge berücksichtigt, obwohl die Neuerungen durchaus relevant für die jeweiligen Ausführungen gewesen wären. Insofern hätten manchen Kapiteln eine Aktualisierung vor Erscheinen gut getan. Andererseits hätte dies möglicherweise einen noch späteren Erscheinungstermin zur Folge gehabt. Es stellt sich die Frage, ob eine derart umfassende Sammlung heute noch in gedruckter Form erscheinen sollte, oder ob sie nicht besser auf einer elektronischen Plattform aufgehoben wäre, die eine schnellere Aktualisierung ermöglicht.
Dass über hundert Autoren unterschiedliche Ansichten und Blickweisen auf das sehr umfassende Thema BPM haben, ist durchaus gewollt und sinnvoll. Allerdings eignet sich nicht jeder Beitrag gleich gut für ein derartiges Handbuch. So findet sich insbesondere im Methodenteil eine Reihe von Beiträgen, die jeweils einzelne Forschungsergebnisse und spezielle Ansätze vorstellen. Diese Forschungs-Papers – so wissenschaftlich hervorragend sie im Einzelnen sein mögen – eignen sich eher für wissenschaftliche Konferenzen und Zeitschriften, werden aber dem Charakter eines Handbuchs nicht gerecht, in dem sich der Leser über das jeweilige Themengebiet im Gesamtzusammenhang informieren möchte.
Dies gilt aber nur für einzelne Beiträge. Insgesamt ist die Zusammenstellung gut gelungen. Das Thema BPM wird in seiner gesamten Breite und Vielfalt abgedeckt, die Ausführungen sind sehr fundiert. Im Folgenden wird auf den ersten Band eingegangen, der neben einer Einführung die Bereiche Methoden und IT abdeckt. Der zweite Band wird in einem gesonderten Beitrag besprochen.
Einführung in das Thema Business Process Management
Das Buch wird vom zwischenzeitlich verstorbenen Michael Hammer eröffnet, der vor allem im Zusammenhang mit dem Business Reengineering berühmt wurde. Er befasst sich mit der Frage „Was ist BPM?„. Er führt das heutige BPM-Konzept vor allem auf die Qualitätsmanagement-Bewegung und eben den Business Reengineering-Ansatz zurück. Ausgehend von einem Prozessmanagement-Kreislauf erläutert er den finanziellen Nutzen von BPM und gibt einen Überblick über Voraussetzungen, Prinzipien, Methoden und Herausforderungen. Thomas Davenport knüpft in seinem Beitrag die Verbindung von BPM zum Knowledge Management. In jüngster Zeit gewinnt die Betrachtung schwach strukturierter, wissensintensiver Prozesse auch in der BPM-Community an zunehmendem Interesse.
Das sehr lesenswerte Kapitel von Paul Harmon stellt zunächst die Historie des Prozessmanagements dar. Drei wesentliche Strömungen seien hier eingeflossen: Erstens Organisation und Management, zweitens Qualitätsmanagement, Six Sigma und Lean, und drittens IT. Im zweiten Teil beschreibt er aktuelle Ansätze und Fragestellungen auf Unternehmensebene (z. B. Value Networks, Enterprise Architecture, Wandel der Unternehmenskultur), Prozessebene (z. B. Service Prozesse und komplexe Prozesse) und Implementierungsebene (z. B. BPMS und Standards).
Auch Geary Rummler, ebenfalls ein Pionier des Prozessmanagements, erlebte das Erscheinen seines Beitrags nicht mehr. Gemeinsam mit Alan Ramias beschreibt er darin ein umfassendes Framework für das gesamte Unternehmen. Diese „Value Creation Architecture“ umfasst Einzelarchitekturen für die Organisation, das Managementsystem, die Technologie und die Mitarbeiter.
Der einleitende Teil des Buches endet mit dem Beitrag der Herausgeber, in dem sie das zur Strukturierung des Buchs verwendete Framework herleiten.
Methoden
Zunächst führt Sue Conger in die Six Sigma-Methodik ein und zeigt anhand eines Helpdesk-Prozesses, wie verschiedene Six Sigma-Werkzeuge zur Prozessverbesserung eingesetzt werden können.
Artem Polyvyanyy u. a. stellen einen Ansatz vor, um aus detaillierten Prozessmodellen automatisch aggregierte Übersichtsmodelle zu gewinnen. Hajo Reijers und Kollegen beschreiben ein von ihnen entwickeltes Framework, das zur Beurteilung der Qualität von Prozessmodellen dient. Jörg Becker und seine Mitautoren haben eine Methode für die automatisierte Prozessanalyse entwickelt. Semantische Probleme, die eine automatisierte Analyse erschweren, können vermieden werden, wenn man eine Modellierungssprache verwendet, die auf semantischen Bausteinen basiert. Als Beispiel stellen sie die für Prozesse der öffentlichen Verwaltung entwickelte PICTURE-Notation dar.
Gustav Aagesen und John Krogstie analysieren in ihrem Beitrag die BPMN mit verschiedenen Verfahren. Schwächen entdeckten sie beispielsweise bei der Modellierung von Ressourcen, Systemstrukturen, Zuständen und Geschäftsregeln. Die Notation enthält zudem teilweise redundante Konstrukte. Manche Elemente werden von den Nutzern als überladen angesehen.
Alena Hallerbach und ihre Ko-Autoren stellen einen Ansatz zur Verwaltung von Prozessvarianten vor. Die Modellierung von Prozess-Choreographien erläutern Alistair Barros und Kollegen – leider ohne Berücksichtigung der aktuellen BPMN-Version. Mikael Lind und Ulf Seigerroth präsentieren eine Fallstudie zur kollaborativen Prozessmodellierung bei Intersport Schweden.
Wie kann man Anwender dabei unterstützen, gute Prozessmodelle zu erstellen? Agnes Koschmider und Andreas Oberweis beschreiben ihren Ansatz eines Empfehlungssystems, das dem Modellierer für einen bestimmten Prozesskontext und ein inhaltliches Modellierungsziel geeignete Prozessstrukturen vorschlägt. Mit der Simulation von Geschäftsprozessen befasst sich eine Gruppe um Wil van der Aalst. Sie schlagen einen Ansatz zur verbesserten Repräsentation von Ressourcen (Mitarbeiter, Maschinen etc.) vor, um die Qualität der Simulation zu erhöhen.
Die Auswahl eines Modellierungstools bei einer australischen Behörde ist Gegenstand des Beitrags von Islay Davies und Micheal Reeves. Sie konstatieren, dass es trotz umfangreicher Informationen der Hersteller schwierig festzustellen war, in wieweit die einzelnen Tools in der Lage sind, die mit der Modellierung angestrebten Ziele der Organisation zu unterstützen. Im Nachhinein stellte sich auch bei dem ausgewählten Werkzeug heraus, dass einige abgedeckte Funktionalitäten in der praktischen Anwendung doch nicht so wie erwartet funktionierten. Dies war u. a. beim Austausch von Modellen mit anderen Tools der Fall.
Der letzte Beitrag im Methodenteil dreht sich noch einmal um das Thema Six Sigma. Florian Johannsen et al. beschreiben, wie eine Automobilbank bei der Auswahl der geeigneten Six Sigma-Werkzeuge und ihrer geeigneten Kombination vorging.
Informationstechnik
Im Themengebiet „IT“ werden verschiedene Arten von „process aware“ Software diskutiert. Mit diesem Begriff soll unterstrichen werden, dass Prozesse nicht nur in Workflow oder Business Process Management-Sytemen eine Rolle spielen, sondern z. B. auch bei ERP- oder CRM-Systemen. Dennoch befassen sich die meisten Beiträge vor allem mit dem Thema BPMS und SOA.
Zunächst gibt Chun Ouyang mit seinen Ko-Autoren einen interessanten Überblick über das Thema Workflow Management. Als Notation für die Beispiele wurde die Sprache YAWL verwendet („Yet Another Workflow Language“), die zwar aus methodischer Sicht eine Reihe von Vorteilen aufweisen mag, aber nicht unbedingt weit verbreitet ist. Zwar zählen die Autoren YAWL zu den „Mainstream Languages“, doch dürfte dies eher ein Wunsch als eine empirische Beobachtung sein. Etwas spezieller ist der Beitrag von Akhil Kumar und Jianrui Wang, die ein Framework für Ressourcen-getriebene Workflows vorstellen. Sie propagieren den Ansatz Ressourcen-getriebener Workflows als Alternative zu herkömmlichen, Kontrollfluss-getriebenen Workflows.
Marlon Dumas und Thomas Kohlborn beschreiben, wie man aus Prozessmodellen geeignete Services ableiten kann, die dann in einer Service-orientierten Architektur implementiert werden. SOA und BPM stehen auch im Fokus des Beitrags von Fred Cummins. Er schreibt über den Aufbau von „shared capabilities“. Diese stellen Services bereit, die auf verschiedene Arten zu Wertschöpfungsketten kombiniert werden können. Thomas Gulledge fordert einen durchgängigen Ansatz zur Integration von Business Process Management und Service Management auf der Basis von Business Services, die letztlich mit Hilfe von technischen Services implementiert werden.
Die Verbindung von BPM und „semantischer Interoperabilität“ sieht Alexander Dreiling als wichtigen Faktor um Agilität zu erreichen. Er zeigt hierfür wichtige Forschungsfragestellungen auf, unter anderem in den Bereichen BPM für End-User, BPM für Communities, Process Composition und Prozessausführung. Frank Leymann et al. erläutern wichtige Standards für BPM. Marco Zapletal beschreibt mit seinen Ko-Autoren, wie organisationsübergreifende Prozesse mit Hilfe der UN/CEFACT Modeling Methodology (UMM) modelliert werden können. Außerdem werden eine Reihe von Verbesserungen für UMM vorgeschlagen.
Sandy Kemsley ist durch ihr Blog „Column 2“ einem großen Publikum bekannt. Ihr Beitrag thematisiert BPM im Enterprise 2.0. Künftig werden kollaborative Prozessmanagement-Ansätze an Bedeutung gewinnen. Heutige BPMS sind noch zu wenig agil und sollten in Richtung von Web 2.0-Plattformen weiterentwickelt werden.
Vom Brocke, J.; Rosemann, M. (Hrsg.):
Handbook on Business Process Management 1: Introduction, Methods, and Information Systems.
Springer 2010
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