Der zweite Teil des „Handbook on Business Process Management“ behandelt die Themenbereiche strategische Ausrichtung, Governance, Menschen und Kultur. Die Beiträge bilden einen sehr umfassenden Fundus geballten Wissens und vieler Erfahrungen aus unterschiedlichen Unternehmen. Der praktische Nutzen für Anwenderunternehmen erscheint dem Rezensenten deutlich höher als im ersten Band. Bemerkenswert ist die hohe Zahl der Beiträge aus Australien. Dies liegt natürlich mit darin begründet, dass einer der beiden Herausgeber, Michael Rosemann, an der Queensland University forscht und lehrt. Die dortige Prozessmanagement-Gruppe ist sehr aktiv. Andererseits zeigen die zahlreichen Fallstudien auch, dass der BPM-Gedanke bei vielen australischen Unternehmen schon recht weit umgesetzt ist. Weitere Schwerpunkte der Herkunft liegen in Europa – hier ist Deutschland recht stark vertreten – und USA. Daneben finden sich aber auch Beiträge aus Südamerika oder Indien, so dass das Sammelwerk nicht nur die verschiedenen BPM-Themen abdeckt, sondern auch unterschiedliche Kontinente und Kulturen.
Der erste Band des Handbuchs wurde in diesem Beitrag besprochen.
Strategische Ausrichtung
Die meisten Unternehmen verfügen über keine strukturierte Vorgehensweise zur erfolgreichen Strategieumsetzung. Roger Burlton stellt eine derartige Methode vor. Das Geschäftsprozessmanagement dient der Umsetzung der Strategie und dem Erreichen der darin definierten Ziele. Burlton entwickelt eine umfangreiche Architektur und Vorgehensweise. Mathias Kirchmer beschreibt das Konzept „Management of Process Excellence“ (MPE), mit dem Agilität und Innovation durch Prozessmanagement angestrebt werden. Hierzu muss das Unternehmen zum Real Time Enterprise werden, das gute Entscheidungen und ihre schnelle Umsetzung ermöglicht. Eine wichtige Rolle spielen die Organisation der Innovationsprozesse und die IT (Enterprise 2.0).
Markus Brenner und André Coners führen das Konzept des „Prozesskapitals“ ein. Prozesse, die einen Wettbewerbsvorteil repräsentieren, werden als wichtiges immaterielles Kapital des Unternehmens angesehen. Aufgabe des Process Capital Management (PCM) ist es, dieses Kapital zu erhalten und zu vergrößern. Es wird erläutert, wie Lufthansa ihr Prozesskapital entwickelt und managed. Chris Aitken und Kollegen haben ein Framework zur hierarchischen Modellierung von Unternehmens-Services und Prozessen entwickelt. Zunächst wird der Unternehmenskontext modelliert. Es folgen als Wertschöpfungsketten modellierte Services, die wiederum durch Prozesskompositionen beschrieben werden. Diese bestehen aus Prozessen. Die logische Ebene der Prozesskompositionen und Prozesse wird mit Hilfe von BPMN modelliert. Darunter findet sich die Implementierungsebene mit Tasks und Einzelschritten. Die Autoren demonstrieren die Anwendung dieses Frameworks an einem Beispiel aus dem Gesundheitswesen.
Tobias Bucher und Robert Winter stellen die Ergebnisse einer empirischen Studie vor. Sie untersuchten, wie der Prozessmanagement-Ansatz in unterschiedlichen Organisationen umgesetzt wird. Dabei konnten sie vier wesentliche Einflussfaktoren identifizieren: die Leistungsmessung, den Professionalisierungsgrad des Prozessmanagements, den Einfluss der Prozessmanager und die Anwendung von Methoden und Standards. Je nach Ausprägung dieser Faktoren konnten unterschiedliche Typen von Unternehmen bestimmt werden: BPM-Anfänger, BPM-Fortgeschrittene, Kollektivisten und Individualisten. Vorgehensweisen zur Prozessverbesserung sollten an den jeweiligen Prozessmanagement-Typus angepasst werden.
Diana Heckl und Jürgen Moormann befassen sich mit dem Process Peformance Management. Ein Problem ist dabei die Auswahl der passenden Messkriterien. Auch hier ist ein individueller Ansatz erforderlich, der die Ziele und Rahmenbedingungen des jeweiligen Unternehmens berücksichtigt. Es wird ausführlich erläutert, wie man ein derartiges Process Performance Management-System aufbaut. Michael zur Mühlen und Robert Shapiro geben einen Überblick darüber, wie sich Prozesse analysieren lassen, die mit Hilfe von Process Engines ausgeführt werden. Mit Hilfe der vorgestellten Methoden können abgelaufene Prozesse sowie laufende Prozessinstanzen ausgewertet werden. Außerdem können Voraussagen über das zukünftige Verhalten von Prozessen erstellt werden.
Compliance-Anforderungen stehen oftmals im Konflikt mit Zielen, die den Unternehmenserfolg betreffen. Shazia Sadiq und Guido Governatori stellen eine Compliance Management-Methode vor, mit der dieser Konflikt bei der Prozessgestaltung behandelt werden kann. Hierbei wird das Management der Prozesse und der Kontrollen aufeinander abgestimmt. Am Beispiel eines Kontoeröffnungsprozesses wird gezeigt, wie Prozessmodelle um Compliance-bezogene Informationen ergänzt und die Prozesse entsprechend angepasst werden können, z. B. durch die Einbindung von Kontrollaktivitäten. Wasana Bandara et al. stellen das Business Value Scoring (BVS) Modell vor, mit dem sich Prozessverbesserungsprojekte bewerten und priorisieren lassen. Es wird das Fallbeispiel eines Finanzdienstleisters dargestellt, bei dem dieses Modell angewandt wurde.
Governance
Der Beitrag von Lynne Markus und Dax Jacobson bietet eine Übersicht über verschiedene Process Governance-Mechanismen und diskutiert ihre Vor- und Nachteile. Es werden mehrere Beispiele aus der Praxis vorgestellt. Andrew Spanyi weist darauf hin, dass es zwar viele Firmen gibt, die erfolgreich Prozessverbesserungen durchführen – zumeist aber nur innerhalb der existierenden Abteilungen. Auch Methoden wie Six Sigma werden in der Praxis vor allem innerhalb von funktionalen Organisationseinheiten durchgeführt. Organisationsübergreifende Veränderungen fallen schwer. Obwohl oft genug betont wird, dass End-to-end-Prozesse durchgängig gestaltet werden sollten, gibt es wenig konkrete Anleitungen, wie dies erreicht werden kann. Spanyi zeigt hierfür wichtige BPM Governance-Prinzipien und Praktiken auf. Diese betreffen die Managementverantwortung, die Messung der Prozess-Performance, die Planung der Prozessveränderungen und den Einsatz von IT.
August-Wilhelm Scheer und Erich Brabänder fassen BPM selbst als Prozess auf, der ebenfalls entsprechend gestaltet und gesteuert werden sollte. Es wird ein durchgängiger BPM-Ansatz für das gesamte Unternehmen vorgestellt. Unter anderem beschreiben die Autoren die unterschiedlichen Rollen im BPM. Eine besondere Bedeutung hat das Center of Excellence for BPM. Dieses wird im darauf folgenden Kapitel von Michael Rosemann aufgegriffen. Er beschreibt die Aufgaben und Dienstleistungen eines solchen Centers of Excellence und präsentiert eine Fallstudie aus dem Bereich der öffentlichen Verwaltung. Wie ein Center of Excellence in der Praxis aussehen kann, stellen Leandro Jesus et al. anhand einer Fallstudie einer brasilianischen Ölfirma dar.
Bis zu welchem Grad ist es sinnvoll, Prozesse zu standardisieren? In wieweit sollten lokale Abweichngen möglich sein? Roger Tregear präsentiert ein Framework, das dabei hilft, das richtige Standardisierungsmaß zu finden. Es umfasst globale und lokale Prozessteams und Festlegungen. Auf lokaler Ebene werden Änderungen vom Standard durchgeführt, wenn es hierfür überzeugende Gründe gibt. Wo dies sinnvoll ist, werden umgekehrt lokale Änderungen in den globalen Standard aufgenommen. Jyoti Bhat et al. stellen eine Fallstudie zum Business Process Outsourcing (BPO) vor. Sie beschreiben, wie Prozessmanagement bei einem indischen Outsourcing-Dienstleister angewandt wird.
Eine weitere Fallstudie von Stefan Novotny und Nicholas Rohmann stellt den Aufbau des globalen Prozessmanagementsystems bei einem Automobilhersteller dar. Die wichtigste Rolle darin spielen die Process Owner, die Prozesse Standort-übergreifend verantworten und über alle Änderungen und Verbesserungen entscheiden. Das Themengebiet Governance wird abgeschlossen mit einem Beitrag von Jörg Zwicker et al. über den Reifegrad des Prozessmanagements in der öffentlichen Verwaltung. Ziel ist es, das 48 Stunden-Versprechen zu erfüllen. D. h. dass Verwaltungsprozesse (z. B. die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises) komplett in 48 Stunden erledigt werden. Dort, wo dies nicht möglich ist, soll der Bürger zumindest innerhalb dieser Frist über die Bearbeitung seines Antrags o. ä. informiert werden. Das Reifegradmodell bewertet das Prozessmanagement-System einer Verwaltung im Hinblick auf die Erfüllung dieses Versprechens und zeigt auf, in welchen Bereichen Handlungsbedarf besteht.
Menschen und Kultur
Den letzten Teil des Sammelbandes eröffnet ein Beitrag von Alexandra Kokkonen und Wasana Bandara über ein BPM Expertise-Modell. Yvonne Lederer-Antonucci vergleicht die Inhalte von Kursen zum Prozessmanagement und entwickelt einen eigenen Vorschlag für ein Curriculum für Geschäftsprozess-Analysten. Hierzu analysiert sie die Rolle des Analysten und leitet daraus notwendige Fähigkeiten und Kenntnisse ab. Keith Harrison-Broninski erläutert, wie Prozesse mit starkem Fokus auf Mitarbeiter-Kollaboration gestaltet und automatisiert werden können. Das vorgestellte Framework basiert auf der Theorie des Human Interaction Management (HIM). Die Darstellung der Prozesse erfolgt mit einer speziellen Notation, die die Kollaboration stärker fokussiert als herkömmliche Modellierungsmethoden. Dimitris Karagiannis und Robert Woitsch befassen sich mit Wissen und Geschäftsprozessen. Prozessmanagement-Wissen kann mit Hilfe von Knowledge Engineering-Methoden in maschinell verarbeitbare Form gebracht werden. Hierdurch ist es beispielsweise möglich, Workflows zu implementieren, die sich selbst anpassen.
Die Veränderung der Unternehmenskultur als Teil des Prozessmanagements steht im Fokus des Beitrags von Ulrike Baumöl. Sie stellt einen Ansatz vor, der nicht nur die weichen Faktoren berücksichtigt, sondern diese mit den harten Faktoren der Veränderung integiert. Besondere Herausforderungen stellt das Management von Prozessen, die viel Kreativität erfordern. Oftmals wird BPM als unvereinbar mit kreativer Arbeit angesehen. Stefan Seidel und Kollegen untersuchen die Produktion von Filmen und visuellen Effekten. Hieraus leiten sie Empfehlungen für das Management solcher „Kreativitäts-intensiver“ Prozesse ab.
Jan vom Brocke et al. stellen eine Fallstudie über die Kulturveränderung bei Hilti vor, wo globale Prozesse und Daten eingeführt wurden. Anhand eine zweiten Fallstudie aus einem Tansportunternehmen zeigen Tonia de Bruin und Gaby Doebeli auf, wie die sechs Kernkomponenten eines BPM-Reifegradmodells zusammenspielen.
Vom Brocke, J.; Rosemann, M. (Hrsg.):
Handbook on Business Process Management 2: Strategic Alignment, Governance, People and Culture
Springer 2010
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