Dem Zusammenwachsen verschiedener Technologien im Umfeld der Automatisierung werden immense Potenziale zugeschrieben. Folgt man den Autoren des vorliegenden englischsprachigen Buchs, so ergeben sich spannende Möglichkeiten nicht nur für Unternehmen. Sie betrachten „Intelligent Automation“ vielmehr als einen Schlüssel zur Lösung wichtiger Menschheitsprobleme, wie die Bewahrung der Umwelt und den Aufbau einer menschlicheren Gesellschaft.
Unter „Intelligent Automation“ (IA) oder „Hyperautomation“ wird dabei die Kombination verschiedener Methoden und Technologien zur Abwicklung kompletter Unternehmensprozesse verstanden. Zu den eingesetzten Technologien gehören maschinelles Lernen, Low-Code-Plattformen, Business-Process-Management-Systeme (BPMS), Robotic-Process-Automation (RPA), Cloud-Computing und viele mehr.
Während jede dieser Technologien für sich bereits zahlreiche Vorteile bietet, kann die Kombination mehrerer Technologien noch um ein Vielfaches wirkungsvoller sein. Dies wird am Beispiel eines Finanzdienstleisters deutlich, der maschinelle Lernverfahren einführte, um Kreditkartenbetrug zu erkennen. Zwar wurden in der Tat mehr Betrugsversuche erkannt, doch verschlechterte sich die Zufriedenheit von Kunden und Mitarbeitern. Dies lag daran, dass die Untersuchung der entdeckten Fälle und die Kundenkommunikation nach wie vor weitgehend manuell erfolgten. Das Problem konnte schließlich durch eine weitgehende Automatisierung des kompletten Ende-zu-Ende-Prozesses mit Hilfe von Intelligent Automation gelöst werden.
Wurden in bisherigen Automatisierungswellen vor allem mechanische Arbeit und einfache Routinetätigkeiten ersetzt, so wird heute zunehmend Wissensarbeit automatisiert. Es entstehen „digitale Arbeitskräfte“, die sowohl stumpfsinnige Tätigkeiten ausführen als auch komplexe kognitive Aufgaben durchführen können, wie z. B. die Auswertung von Millionen Datensätzen. Wo dies möglich ist, werden „berührungslose“, vollautomatische Prozesse implementiert. An anderen Stellen arbeiten die digitalen Akteure Hand in Hand mit ihren menschlichen Kollegen.
Auch wenn zumindest die Bezeichnung „Intelligent Automation“ erst vor wenigen Jahren entstand, haben bereits viele Unternehmen das Konzept aufgegriffen. Neben Vorteilen wie der ständigen Verfügbarkeit, der hohen Zuverlässigkeit und der guten Skalierbarkeit „digitaler Arbeitskräfte“ versprechen sich die Unternehmen insbesondere auch finanzielle Vorteile. So wird davon berichtet, dass typische Amortisationszeiten von Intelligent-Automation-Projekten unter einem Jahr liegen.
Das Buchs besteht aus vier Teilen und einem Anhang mit einer umfangreichen Liste möglicher Anwendungsfälle.
Teil 1 thematisiert die Vorteile intelligenter Automatisierung. So werden neue, digitale Geschäftsmodelle ermöglicht. Künftige Gewinner-Unternehmen werden einen hohen Automatisierungsgrad aufweisen. Hierzu tragen auch Verbesserungen der Mitarbeiter- und Kundenerfahrungen bei, die mit Hilfe intelligenter Automatisierung erreicht werden. Auch können Betrug, Fehler und Unfälle reduziert und Leben gerettet werden. Beispielsweise können Forschung und klinische Tests verbessert und Fehler bei der Verabreichung von Medizin reduziert werden. Schließlich kann intelligente Automatisierung dazu beitragen, die Gesellschaft widerstandsfähiger gegen Krisen wie die COVID-19-Pandemie zu machen – etwa durch Fernzugriff auf IT-Systeme oder durchgängig digitale Prozesse.
Teil 2 beschreibt die wichtigsten Fähigkeiten intelligenter Automatisierung: Sehen, Ausführen, Sprache sowie Denken und Lernen. Sehen beinhaltet Texterkennung, Bild- und Videoauswertung und Biometrie. Für das Ausführen einzelner Aufgaben oder kompletter Prozesse kommen unter anderem BPM-Systeme, Low-Code-Plattformen und Robotic-Process-Automation zum Einsatz. Fähigkeiten zur Verarbeitung und Erzeugung natürlicher Sprache bilden die Voraussetzung für intelligente Chatbots, das Verarbeiten und Verstehen von Texten, die Analyse gesprochener Sprache und das Erkennen von Stimmungen menschlicher Gesprächspartner. Wichtige Technologien im Bereich Denken und Lernen sind Big-Data-Management, maschinelles Lernen und Datenvisualisierung. Ihre volle Wirkung entfalten die aufgeführten Fähigkeiten, wenn sie in geeigneter Weise kombiniert werden, um komplette Ende-zu-Ende-Prozesse zu automatisieren.
In Teil 3 geht es um die erfolgreiche Implementierung intelligenter Automatisierung. Kleine Pilotprojekte zum Erfolg zu führen, ist meist vergleichsweise einfach. Wesentlich schwieriger ist es hingegen, sie unternehmensweit hochzuskalieren. Die Autoren diskutieren, welche Barrieren hierfür zu überwinden sind. Sie stellen eine Roadmap mit einer möglichen Vorgehensweise für Automatisierungsinitiativen vor. Hierbei können ebenfalls Technologien zur intelligenten Automatisierung hilfreich sein. Hilfreich ist beispielsweise die Demokratisierung der Softwareentwicklung durch Low-Code-Plattformen. In absehbarer Zeit könnte es sogar möglich werden, Automatisierungslösungen zu erstellen, indem man mit einem Chatbot spricht. Intelligente Automatisierungssysteme könnten selbst zur Weiterentwicklung der Automatisierung beitragen, etwa durch automatisierte Prozessanalysen und automatische Code-Generierung. An vielen Stellen ergeben sich neue Möglichkeiten durch eine engere Symbiose zwischen Menschen und Technologie. Es wird erwartet, dass Automatisierungssysteme Menschen verstehen und sie somit gezielter unterstützen können. Zu den langfristigen Trends gehört die Entwicklung von Schwarm-Robotern, die sich autonom organisieren und den Betrieb und die Weiterentwicklung des Unternehmens als gemeinsames Ziel verfolgen.
Teil 4 widmet sich den gesellschaftlichen Konsequenzen. Intelligente Automatisierung wird als eine zentrale Komponente der derzeit stattfindenden vierten industriellen Revolution angesehen. In einem optimistischen Szenario werden mehr neue Arbeitsplätze entstehen als durch Automatisierung wegfallen. Der Übergang erfolgt vergleichsweise sanft, und die Menschen haben genug Zeit, sich entsprechend anzupassen und weiterzubilden. Dem gegenüber steht ein pessimistisches Szenario mit radikalen und rasanten Veränderungen, wobei die Menschen in sehr vielen Bereichen von intelligenten Systemen ausgestochen und ersetzt werden. Es gilt, sich auf beide möglichen Szenarien einzustellen. Hierfür ist es erforderlich, Qualifikationen und Tätigkeiten prinzipiell zu überdenken. So könnte die Arbeitszeit verkürzt werden und die Menschen könnten sich auf sinngebende Tätigkeiten und nicht automatisierbare Fähigkeiten konzentrieren, wie kritisches Denken, Kreativität und moralische Bewertungen. Hierauf müsste sich auch das Bildungswesen einstellen. Und schließlich sollte der geschaffene Wohlstand gerechter verteilt werden. Ein geeignetes Instrument hierfür könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen sein.
„Die Welt braucht mehr intelligente Automatisierung!“ wird in der Zusammenfassung gefordert. Die Autoren sehen darin große Chancen, die Gesellschaft zu verbessern und widerstandsfähiger gegen Krisen zu machen. Mittelfristig erwarten sie „selbstfahrende Unternehmen“, die zu großen Teilen komplett automatisiert betrieben werden – und sich mit Hilfe künstlicher Intelligenz selbst verbessern und weiterentwickeln. Letzteres könnte auch dazu führen, dass kaum noch Unternehmensberater benötigt werden. Neben Konzepten zur Vollautomatisierung werden aber auch Mensch-zentrierte Ansätze benötigt, die eine verbesserte Zusammenarbeit von Mensch und Maschine ermöglichen.
Für Unternehmen, die geeignete Anwendungsbereiche für Automatisierungsprojekte suchen, dürfte auch die Sammlung von über 500 möglichen Anwendungsfällen im Anhang sein. Gegliedert nach Unternehmensfunktionen und Branchen sind Automatisierungsvorschläge für zahlreiche Aktivitäten stichwortartig aufgeführt.
Zu erwähnen ist außerdem, dass viele Fußnoten auf sehenswerte Videos über neue Technologien und Forschungen verweisen.
Fazit: Wer eine aktuelle und umfassende Übersicht über die Potenziale aktueller Automatisierungsansätze und ihre Kombination erhalten möchte, dürfte an diesem Buch nicht vorbeikommen. Inwieweit der Optimismus hinsichtlich der Verbesserung unserer Gesellschaft gerechtfertigt ist, mag jeder Leser selbst entscheiden. An manchen Stellen wäre eine kritischere Diskussion angebracht. So wird etwa die Erwartung geäußert, dass eines Tages sämtliche Handgriffe jedes Mitarbeiter genau erfasst werden, um daraus automatisch Verbesserungspotenziale für die Prozesse zu identifizieren. Dass dies zugleich eine Totalüberwachung der Mitarbeiter darstellt und dem Missbrauch Tür und Tor öffnet, wird hingegen nicht thematisiert.
Pascal Bornet, Ian Barkin, Jochen Wirtz:
Intelligent Automation. Welcome to the World of Hyperautomation. 2020.
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