Das neue englischsprachige Lehrbuch Fundamentals of Business Process Management (Anzeige) ist ein internationales Gemeinschaftswerk. Die Autoren lehren an den Universitäten in Tartu (Estland), Brisbane (Australien), Wien (Österreich) und Eindhoven (Niederlande). Sie alle sind renommierte Mitglieder der wissenschaftlichen BPM-Community. Insofern gibt das Buch ganz gut den akzeptierten Stand der Wissenschaft wieder, wobei die Forschung in diesem Zusammenhang bekanntermaßen recht stark IT- und modellierungslastig ist. Insofern konzentriert sich auch das Buch vor allem auf die modellgestützte Darstellung, Analyse, Steuerung und Automatisierung von Prozessen. Strategische, organisatorische und mitarbeiterbezogene Aspekte werden zwar nicht ignoriert, spielen aber im Vergleich eine untergeordnete Rolle.
Das einführende Kapitel beschreibt zunächst die Herkunft und Entwicklung des Themas Business Process Management. Der zur Strukturierung des Buchs verwendete BPM-Lebenszyklus umfasst die folgenden Phasen:
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- Process Identification: In dieser vorbereitenden Phase werden die im Unternehmen vorhandenen Prozesse ermittelt und in eine Prozessarchitektur eingeordnet. Die identifizierten Prozesse werden hinsichtlich verschiedener Kriterien, wie ihrer Bedeutung und ihrem Verbesserungsbedarf klassifiziert. Hier können u. a. auch Reifegradmodelle eingesetzt werden. Es soll festgestellt werden, welche Prozesse im Rahmen von BPM-Initiativen vordringlich zu behandeln sind. Zur Strukturierung der Prozessarchitektur wird eine Matrix aus Funktionen und unterschiedlichen Fällen (z. B. Produkttypen, Verkaufskanäle) verwendet. Ein Prozess kann dann ein oder mehrere verbundene Felder der Matrix überspannen. Es werden Richtlinien vorgestellt, die dabei helfen, die Prozesse geeignet zu schneiden.
- Process Discovery: Als Voraussetzung für Prozesserhebung wird zunächst die BPMN (Business Process Model and Notation) ausführlich vorgestellt. Zur Erhebung der Ist-Prozesse ist ein geeignetes Team aus Prozessanalysten und Fachexperten erforderlich. Informationen über die Prozesse können auf verschiedene Weise gewonnen werden, z. B. durch die Analyse von Dokumenten und Beobachtungen (u. U. auch die automatisierte Auswertung von Daten aus Informationssystemen), aber auch durch Interviews oder Workshops. Anschließend werden die Prozesse modelliert. Schließlich ist die Qualität der erstellten Modelle zu prüfen – nicht nur auf syntaktische und inhaltliche Korrektheit, sondern beispielsweise auch hinsichtlich Verständlichkeit. Ein wichtiges Hilfsmittel stellen Modellierungsrichtlinien und -konventionen dar.
- Process Analysis: Es werden qualitative und quantitative Analyseverfahren vorgestellt. Zu den qualitativen Verfahren gehören die Untersuchung der Wertschöpfung eines Prozesses, Ansätze zur Reduktion von Verschwendung und Ursachen-Wirkungsanalysen. Für die quantitativen Verfahren müssen zunächst geeignete Prozesskennzahlen festgelegt werden. In der Regel beziehen sich diese Kennzahlen auf die Dimensionen Zeit, Kosten, Qualität oder Flexibilität. In einfachen Fällen lassen sich Durchlaufzeiten mit Hilfe von Fluss-Analysen ermitteln. Die Warteschlangentheorie kann genutzt werden um Ressourcenauslastungen ermitteln. Die vorgestellten mathematischen Verfahren stoßen jedoch in den meisten praktischen Fällen an ihre Grenzen. Als Alternative können dynamische Simulationen von Prozessmodellen eingesetzt werden. Um sicherzustellen, dass die verwendeten Simulationsmodelle und -daten die Dynamik des realen Prozess korrekt abbilden, wird die Überprüfung mit Hilfe von Vergangenheitswerten und eine Plausibilitätsprüfung durch Prozessbeteiligte dringend angeraten.
- Process Redesign: Für den Entwurf neuer, verbesserter Prozesse kann man einerseits dem „grünen Wiese“-Ansatz folgen, bei dem ohne Berücksichtigung der Ist-Prozesse völlig neue, ideale Prozesse entworfen werden. Meist erfolgt jedoch eine Betrachtung und Verbesserung der Ist-Prozesse. Für manche Branchen und Anwendungsbereiche existieren Blueprints oder Referenzmodelle, wie z. B. ITIL für das IT-Management. Sie enthalten bewährte Prozesse und Strukturen und können als Ausgangspunkt für die Entwicklung der eigenen Prozesse verwendet werden. Die Autoren stellen zwei sehr unterschiedliche Ansätze für das Process Redesign vor. Der eine basierte auf einer Reihe von Heuristiken zur Verbesserung existierender Prozesse. Der andere Ansatz entwickelt ausgehend von den zu erstellenden Produkten komplett neue Idealprozesse. Es wird eine umfassende Liste von Heuristiken vorgestellt, die sich u. a. auf die Rolle des Kunden, die Prozessabwicklung, die Organisation, die verwendeten Informationen und Technologien beziehen. Beispielsweise kann man die Rolle des Kunden ändern, indem man Kontrollaufgaben an den Kunden überträgt, die Zahl der Kundenkontakte im Prozess reduziert oder die eigenen Prozesse enger mit den Kundenprozessen integriert. Die Anwendung des Heuristik-basierten Ansatzes wird am Fallbeispiel der Patientenaufnahme in einem Krankenhaus demonstriert. Beim Produkt-basierten Ansatz wird zunächst Top-down ein Modell der zu erbringenden Produkte oder Dienstleistungen mit den benötigten Informationen und ihren Abhängigkeiten aufgestellt. Anschließend werden die Prozesse und Prozessschritte festgelegt, die nötig sind um die einzelnen Elemente des Produktmodells zu erstellen.
- Process Implementation: In dieser Phase geht es einerseits um die organisatorische Umsetzung der notwendigen Veränderungen, andererseits um die IT-Untersützung. Das Buch beschränkt sich hier auf die IT-Unterstützung, und zwar ausschließlich auf die Prozessautomatisierung mit Hilfe von Business Process Management-Systemen (BPMS). Es werden die Architektur von BPMS, ihre Vorteile und Herausforderungen bei der Einführung beschrieben. Schließlich wird die Umsetzung eines Prozessmodells in eine ausführbare Prozessdefinition dargestellt.
- Process Monitoring and Controlling: Hierzu findet sich ein Kapitel über „Process Intelligence“, also vor allem die Auswertung von Ereignis-Protokollen aus Process Engines und anderen Informationssystemen zur Ermittlung von Kennzahlen, aber auch zur Überprüfung, ob Compliance-Regeln eingehalten werden – und außerdem zur automatisierten Identifizierung von tatsächlich abgelaufenen Prozessen.
Besonders nützlich für die Vertiefung des Stoffs sind die zahlreichen Beispiele, Kontrollfragen und Übungsaufgaben. Am Ende jedes Kapitels werden Lösungsvorschläge zu den Übungsaufgaben vorgestellt und Hinweise auf weiterführende Literatur gegeben. Zwar deckt das Buch nicht alle Aspekte des Themas Geschäftsprozessmanagement ab, und einige der vorgestellten Analyse-Algorithmen haben für künftige BPM-Spezialisten vielleicht weniger praktische Relevanz. Dennoch kann das Werk uneingeschränkt als aktuelles Lehrbuch empfohlen werden. Insbesondere fortgeschrittene Studierende, z. B. in einem Masterstudium der Informatik oder Wirtschaftsinformatik, dürften davon profitieren.
Dumas, La Rosa, Mendling, Reijers:
Fundamentals of Business Process Management
Springer 2013
Das Buch bei amazon (Anzeige)
65€ ist ein stattlicher Preis für dieses Buch. Lohnt es sich im Kosten-/Nutzenvergleich?
Ich denke da vor allem an den Nutzen für berufstätige Prozessmanager und angehende berufstätige Prozessmanager.
Gruß
Das ist eine gute Frage. Für Prozessmanager in der Praxis gibt es sicher Bücher, die wichtiger und nützlicher sind, wie z. B. Schmelzer/Sesselmann. Insbesondere die Business-Seite wird in dem hier besprochenen „Fundamentals of Business Process Management“ nur schwach abgedeckt.
Wer sich viel mit detaillierter BPMN-Modellierung, ausführbaren Modellen, etwas formaleren Methoden zur Prozessanalyse und Themen wie Process Mining beschäftigt, für den könnte das Buch interessant sein. Aber das Buch stammt von Wissenschaftlern, Hauptleser dürften Studierende sein. Angesichts des Preises werden es die meisten in der Bibliothek ausleihen. Mit seinen knapp 400 eng bedruckten Seiten und den zahlreichen Aufgaben bietet es schon einiges an Inhalt.
Danke für die interessante Buchbesprechung. Kennen Sie eine Entsprechung zu dem Werk von „Schmelzer/Sesselmann“ in Englisch? Ich recherchiere immer wieder mal, habe aber noch nichts relevantes entdeckt.
Grüße
Eine direkte Entsprechung kenne ich auch nicht. Am ehesten vielleicht noch „Business Process Change“ von Paul Harmon.
Danke für die Information 🙂