Bislang habe ich sehr positive Reaktionen auf mein neues BPMS-Buch erhalten. Unter anderem kam aber auch die Frage auf, ob das klassische, Prozessmodell-getriebene BPMS-Konzept, das ich in dem Buch mit vielen Beispielprozessen erläutere, überhaupt noch zeitgemäß ist. Sollte man sich angesichts eines immer größeren Anteils an Wissensarbeitern nicht stattdessen lieber mit neueren und flexibleren Ansätzen beschäftigen, wie Adaptive Case Management (ACM)?
Sicherlich muss man die klassische BPMS-Philosophie kritisch hinsichtlich ihrer Eignung für verschiedene Einsatzbereiche hinterfragen. Für die meisten schwach strukturierten und wissensintensiven Prozesse ist es tatsächlich nicht sinnvoll und meist auch gar nicht möglich, den kompletten Ablauf im Voraus in Form eines BPMN-Modells festzulegen. Für solche Prozesse ist Adaptive Case Management besser geeignet. Das heißt aber nicht, dass der herkömmliche BPM-Ansatz komplett überholt wären. Das Buch soll einen fundierten Einstieg in das Themengebiet bieten. Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb ich mich darin auf Prozessmodell-basierte BPMS beschränkt habe:
- Die überwiegende Mehrzahl aller BPMS, die heute auf dem Markt verfügbar sind, verwenden den Prozessmodell-basierten Ansatz. Zwar gibt es durchaus reine ACM-Systeme, doch sind diese zumindest momentan noch in der Minderheit. Häufig wird Case Management auf klassischen BPM-Plattformen als zusätzliche Funktionalität angeboten.
- Das klassische BPM-Konzept ist in Theorie und Praxis recht weit entwickelt. Die entsprechenden Systeme haben einen hohen Reifegrad erreicht. Es handelt sich somit um einen etablierten Ansatz, der eine Grundlage dieses Fachgebiets darstellt.
- Bei ACM hingegen handelt es sich um einen recht neuen Ansatz, der sich noch stark in Entwicklung befindet. Daher ist es schwierig, entsprechende Grundlagen zu identifizieren, die nicht bereits in wenigen Jahren überholt sein werden.
- Die Kenntnis der klassischen BPM-Grundlagen hilft beim Verständnis von ACM und anderen neuen Ansätzen. So finden sich Konzepte wie Definitionen und Instanzen von Prozessen auch bei ACM in Form von Fall-Templates und Fällen wieder. Ebenso sollte man etwa verstehen, worum es bei der Korrelation von Nachrichten geht. Ob eine Nachricht einer Prozessinstanz oder einem Fall zugeordnet wird, stellt keinen großen Unterschied dar. Manche Vorteile des ACM-Ansatzes erschließen sich erst richtig, wenn man sie mit dem klassischen Konzept vergleicht, wo z. B. Mitarbeiter während der Prozessdurchführung nicht so einfach ganz neue Bearbeitungsschritte hinzufügen können.
- Auch bei der Bearbeitung von Fällen gibt es oftmals Teile, die in Form von strukturierten Prozessen ablaufen. Das klassische BPM-Konzept wird daher wohl nicht komplett abgelöst. Stattdessen werden sich ACM und BPMS-Funktionalitäten sinnvoll ergänzen.
- Die Zahl der strukturierten und standardisierten Prozesse dürfte in Zukunft keineswegs sinken. Zum einen gibt es immer mehr komplett automatisierte Prozesse, die zwangsläufig sehr stark strukturiert sind – zumindest solange, bis sich hochgradig intelligente und autonome Software-Agenten auf breiter Front durchgesetzt haben. Zum anderen müssen immer mehr Prozesse skalierbar sein um effizient über das Internet abgewickelt werden zu können. Hierzu müssen sie stark strukturiert und standardisiert sein. Wenn jemand bei einem großen Internethändler etwas bestellt, dann wird nicht erst individuell darüber nachgedacht, wie man die Wünsche dieses Kunden erfüllen kann. Es läuft vielmehr ein komplett standardisierter Prozess ab. Es mag sein, dass Prozesse mit starker Mitarbeiterbeteiligung künftig verstärkt mit Hilfe von ACM unterstützt werden. Klassische Process Engines wird man dann eher bei der Steuerung komplett automatisierter Prozesse finden. Die Zahl der Einsatzmöglichkeiten wird damit aber nicht geringer.
Wer sich als für den Einstieg zunächst mit den Grundlagen klassischer BPMS beschäftigt, liegt daher auf jeden Fall richtig. Und am besten versteht man diese, wenn man sie selbst ausprobiert. Daher gibt es die zahlreichen Beispielprozesse zu dem Buch, die man herunterladen und mit dem Open Source-System „Bonita“ ausführen kann.