Eigentlich dürfte es Wikipedia überhaupt nicht geben. Noch vor wenigen Jahren hätte man es für unmöglich erklärt, dass rein auf Basis freiwilliger Beiträge ein nennenswertes Lexikon entsteht, dessen Qualität sich mit dem Brockhaus oder der Encyclopedia Britannica messen kann. Aus Prozessmanagement-Sicht ist es ein interessantes Beispiel dafür, dass auch selbst organisierende Strukturen mit sehr leichtgewichtigen Prozessen funktionieren können. Anstelle der klassischen Lexikon-Redaktion mit definierten Prozessen zur Auswahl von Stichworten, zur Recherche und Überprüfung der Inhalte ist eine offene Plattform mit einigen wenigen Regeln getreten.
Ist Wikipedia ein Vorbild für andere Organisationen, z. B. auch kommerzielle Unternehmen? Sicher nicht für alle. Zahlreiche Ideen und Prinzipien eignen sich aber nicht nur für Communities im Web 2.0, sondern auch für herkömmliche Unternehmen. Ayelt Komus und Franziska Wauch haben in Ihrem kürzlich erschienen Buch (Anzeige) dafür den Begriff „Wikimanagement“ geprägt.
Das Buch ist in drei Hauptabschnitte gegliedert: Der erste Teil erläutert das „Mitmach-Internet“ Web 2.0 und schildert die Wikipedia-Story. Im zweiten Teil wird das Phänomen Social Software mit verschiedenen Organisationstheorien verglichen. Der dritte Teil schließlich zeigt Anwendungsfelder von Social Software in Unternehmen auf.
Social Software und die Wikipedia-Story
Jeder redet vom Web 2.0, doch ein kompletter Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten von Social Software und ihre Anwendungsbereiche fehlt meistens. Daher wird zunächst ein umfassender Überblick gegeben. Wikis, Weblogs, Foto-Alben, Mashups, Podcasts, Soziale Netzwerke, Social Bookmarking, Bewertungssysteme, virtuelle Welten, Open Source Software – kein wichtiges Feld wird ausgelassen, und die aufgeführten Beispiele bieten auch dem erfahrenen Internet-Nutzer noch manch Staunenswertes.
Als prominentes Beispiel und mit Abstand größtes Wiki wird das Online-Lexikon Wikipedia ausführlich diskutiert. Vorläufer war übrigens ein Projekt namens „Nupedia“, bei dem im Gegensatz zu Wikipedia eine sorgfältige Qualitätskontrolle durch freiwillige Experten durchgeführt wurde. Dieses Modell war jedoch nicht erfolgreich. Wikipedia basiert auf nur ganz wenigen Grundprinzipien, wie der freien Zugänglichkeit aller Inhalte und dem Prinzip des neutralen Standpunkts. Dieser besagt, dass strittige Themen aus verschiedenen Perspektiven dargestellt werden sollen, und dass Inhalte nachvollziehbar und belegbar sein sollen. Interessant ist auch die Regel „Ignoriere alle Regeln“. Im Zweifelsfall soll jeder mitarbeiten können, auch wenn er nicht alle Regeln kennt, oder eine Regel im Einzelfall nicht sinnvoll ist.
Das Buch informiert weiterhin über die aktiven Nutzer, Aufbau und Funktionsweise, Entscheidungsfindung sowie Qualität der Wikipedia. Trotz Missbrauchs und gelegentlichen fehlerhaften Informationen sorgt die Korrektur durch andere Nutzer für eine Qualität, die in Tests z. T. höher war als die renommierter herkömmlicher Lexika. Trotzdem ist und bleibt die Qualität der Beiträge ein Thema. Erst nach Erscheinen des Buchs begann vor Kurzem in der deutschsprachigen Wikipedia ein Test mit von regelmäßigen Autoren gesichteten sowie von fachkundigen Prüfern bestätigten Beiträgen (vgl. „Gesichtete und geprüfte Versionen“ bei Wikipedia).
Wikipedia dürfte gar nicht funktionieren
Im zweiten Teil des Buches wird Social Software als soziotechnisches System mit verschiedenen Organisationstheorien verglichen. Dieser Teil dürfte vor allem für Wirtschaftswissenschaftler und Studierende dieses Fachgebiets von Interesse sein. Die besprochenen Ansätze reichen von Max Webers Bürokratieansatz über verhaltens- und systemorientierte Ansätze bis hin zur lernenden und virtuellen Organisation. Hierbei zeigt sich deutlich, dass das Funktionieren von Wikipedia und anderen Social Software-Projekten mit freiwilliger Beteiligung insbesondere durch klassische Ansätze überhaupt nicht und durch andere herkömmliche Ansätze nur in Teilaspekten erklärt werden kann. Am ehesten liefern noch alternative Ansätze wie „Kathedrale und Basar“ oder „Weisheit der Vielen“ und Schwarmintelligenz nützliche Erklärungsbeiträge.
Da in dem Buch recht häufig von demokratischen Entscheidungsprozessen die Rede ist, hätte man ergänzend noch die Politikwissenschaft heranziehen können. Sicherlich lassen sich wesentliche Faktoren, die zum Funktionieren demokratischer Gemeinwesen beitragen, auch bei Wikipedia wiederfinden. Und auch das Phänomen der Freiwilligkeit und der wenigen Regeln ist nicht neu und auf das Web 2.0 beschränkt, sondern kann auch in Vereinen und Initiativen beobachtet werden.
Was Unternehmen von Wikipedia & Co. lernen können
Nach dem Ausflug in die Theorie wird es im dritten Teil wieder praktischer. Hier geht es um die Anwendbarkeit von Social Software-Prinzipien sowie von Web 2.0-Ansätzen in verschiedenen Unternehmensbereichen. Zunächst werden hierzu die wichtigsten Erfolgsfaktoren für Wikipedia und andere Social Software-Systeme herausgearbeitet:
- Gemeinsame Ziele und Visionen
- Partizipativ und integrativ
- Vertrauenskultur
- Flexible Regelauslegung
- Mix verschiedener Herrschaftsformen
- Selbstverwirklichung
- Einfachheit in der Nutzung
- Emergente Entwicklung
- Inkrementelle Entwicklung
- Entprivatisierung und persönlicher Stil
Diese Prinzipien passen vielfach überhaupt nicht mit etablierten Management-Prinzipien zusammen. So kombiniert der Mix aus verschiedenen Herrschaftsformen eine zentrale Kontrollstruktur, die allerdings nur wenige Regeln vorgibt, mit basisdemokratischen Aspekte sowie der Herrschaft der Kompetenten und Aktiven. Auch bedeutet das Prinzip der emergenten Entwicklung eine Abkehr von einer möglichst genauen Vorausplanung zugunsten von sich nach und nach herausbildenden Strukturen und Ergebnissen. Hier gibt es natürlich viel Diskussionsstoff, ob und in welchen Fällen sich solche Prinzipien auch in normalen Unternehmen anwenden lassen.
Komus und Wauch zeigen eine Vielzahl von Anwendungsfeldern im Unternehmen auf, und zwar in den Bereichen Management, Wissensmanagement, Personalmanagement, Projektmanagement, Produkt- und Innovationsmanagement, Kommunikation, Geschäftsprozessmanagement und Change Management. Es scheint also kaum einen Bereich im Unternehmen ohne Anwendungsmöglichkeiten für Wikimanagement zu geben. Für jeden Bereich wird zunächst dargestellt, wie sich die oben genannten Prinzipien anwenden lassen. Anschließend werden Einsatzmöglichkeiten für konkrete Web 2.0-Technologien diskutiert.
Wikimanagement im Personalwesen
Als Beispiel wird das Personalmanagement betrachtet. Die Anwendung einiger der oben genannten Prinzipien kann z. B. so erfolgen: Die Entwicklung einer gemeinsamen Vision aller Mitarbeiter ist ein zentrales Element der Personalführung. Partizipation kann beispielsweise im Rahmen von 360 Grad-Bewertungen erfolgen, bei der z. B. auch Vorgesetzte durch Mitarbeiter bewertet werden, sowie generell bei sämtlichen Veränderungsmaßnahmen. Beispiel für ein Element einer Vertrauenskultur ist die Einführung von Vertrauensarbeitszeit im Gegensatz zur Arbeitszeitkontrolle. Eine Entprivatisierung erfolgt etwa durch die Veröffentlichung von Qualifikations- und Kompetenzprofilen im Intranet oder durch die Mitarbeit an firmeninternen Wikis oder Weblogs.
Social Software-Technologien können beispielsweise bei der Personalbeschaffung eingesetzt werden, z. B. indem in Social Networks wie Xing nach interessanten Kandidaten gesucht wird. Bewerber können mit Podcasts und Videos bereits im Vorfeld tiefere Einblicke in das Unternehmen und das Arbeitsumfeld gewinnen. Virtuelle Welten können ebenfalls für Jobbörsen oder Vorstellungsgespräche genutzt werden. Hilfreich für die interne Kommunikation und den Aufbau gemeinsamer Visionen sowie einer Vertrauenskultur sind etwa firmeninterne Weblogs, über die eine direktere Kommunikation über Abteilungs- und Hierarchiegrenzen hinweg möglich ist.
Early Adaptors in diesem Bereich sind u. a. IBM, Sun und Siemens. Bei der britischen Radio- und Fernsehanstalt BBC gab es 2006 bereits 300 Blogger, die ihre Beiträge unternehmensintern oder -extern veröffentlichten. Daneben werden Wikis zur Unterstützung von Projekten aber auch zur Veröffentlichung von Unternehmensgrundsätzen und Richtlinien veröffentlicht.
Diskussionsstoff und das Wiki zum Buch
In diesem dritten Hauptteil feuern die Autoren ein wahres Feuerwerk an Ideen und Einsatzmöglichkeiten für Wikimanagement-Ansätze ab. Dennoch bleiben die Ausführungen stets realitätsbezogen. Wikimanagement wird nicht als Allheilmittel verkauft. An vielen Stellen wird auch deutlich auf die Grenzen der Anwendbarkeit hingewiesen, die etwa bei hohen Qualitätsanforderungen oder sicherheitsrelevanten Themengebieten bestehen.
An manchen Stellen entsteht beim Leser sicherlich neuer Diskussionsbedarf. Beispielsweise wäre es interessant zu untersuchen, wie effizient die Arbeitsweise von Wikipedia im Vergleich zu herkömmlichen Lexika ist. Wieviel Arbeitsaufwand fließt durchschnittlich in einen Wikipedia-Artikel, wieviel in einen Brockhaus-Eintrag? Eine andere Frage, die noch ausführlicher diskutiert werden könnte: Inwieweit lässt sich die intrinsische Motivation der freiwilligen, unbezahlten Wikipedia-Mitarbeit in ein kommerzielles Unternehmen mit bezahlten Mitarbeitern übertragen? Diese und weitere Fragen lassen sich im Wiki und im Blog zum Buch diskutieren: www.wikimanagement.de.
Das Kapitel über Wikimanagement und Geschäftsprozessmanagement wird in diesem Blog noch in einem gesonderten Beitrag vorgestellt.
Komus, Ayelt; Wauch, Franziska:
Wikimanagement. Was Unternehmen von Social Software und Web 2.0 lernen können.
Oldenbourg 2008.
Das Buch bei amazon (Anzeige)
[…]dessen Qualität sich mit dem Brockhaus oder der Encyclopedia Britannica messen kann.[…]
Naja, in manchen Fällen schon, in anderen überhaupt nicht.
Und als Quelle für Zitate taugt wikipedia in vielen Fällen garnicht da es nicht anerkannt wird, den Brockhaus oder die Encyclopedia Britannica kann man aber so gut wie immer problemlos angeben.
Gruß Andre